• «Wir sind der Ansicht, dass es einen rechtlichen Spielraum gibt»

    Die Berner Stadtregierung unterstützt eine Stadt-ID, mit der sich Sans-Papiers ausweisen und wichtige Dienstleistungen wie eine Krankenkassen abschliessen können. Warum Bern zügiger vorangeht als Zürich und was es noch zur Stadt-ID braucht, verrät die zuständige Gemeinderätin, Franziska Teuscher, im Interview.

     

    Die Berner Stadtregierung unterstützt seit Jahren eine städtische ID in Bern, die insbesondere Sans-Papiers zugutekommen soll. Wie kam es dazu?

     

    Innerhalb des Kollektivs «Wir alle sind Bern» und der Beratungsstelle für Sans-Papiers in Bern, aber auch innerhalb der rot-grünen Parteien läuft schon seit mehreren Jahren eine intensive Diskussion zu diesem Thema. Die Exekutive der Stadt Bern – der Gemeinderat – hat dieses Anliegen aufgenommen und die Prüfung einer City Card im «Schwerpunkteplan Integration 2018-2021» festgeschrieben. Wir wussten zwar, dass die Umsetzung eines solchen Ausweises schwierig sein würde. In der Stadtregierung waren wir uns jedoch einig, dass dieses Anliegen gut zur Stadt Bern passt: Die laufende Legislatur hat der Gemeinderat unter das Motto «Stadt der Beteiligung» gestellt. «Beteiligen» sollen sich alle und sollen sich alle können, auch die Sans-Papiers.

     

    Gab es keinen Widerstand innerhalb des Gemeinderates?

     

    Klar wurde die Frage aufgeworfen, ob die City Card rechtlich überhaupt umsetzbar sei. Oder was diese Karte überhaupt bringe. Dem Gemeinderat war es dennoch wichtig, zu prüfen, in welcher Form man die Karte in Bern umsetzten könnte. Wir messen dem Motto «Stadt der Beteiligung» ein grosses Gewicht bei.

     

    Welche Benachteiligungen erfahren Sans-Papiers in Bern zurzeit?

     

    Wie überall in der Schweiz leben Sans-Papiers auch in Bern in dauernder Angst, aufzufliegen und ausgeschafft zu werden. Die prekäre Aufenthalts- und Arbeitssituation der Sans-Papiers führt dazu, dass diese Bevölkerungsgruppe unter grossem Druck steht. Dies zeigt sich gerade in der jetzigen Corona-Krise mit aller Deutlichkeit. Innerhalb der Verwaltung versuchen wir unseren Handlungsspielraum auszuschöpfen.

     

    Gibt es einen Bereich, den Sie für Sans-Papiers als besonders gravierend einstufen?

     

    Die Benachteiligungen im Justizbereich sind besonders gravierend: Sans-Papiers reichen keine Anzeige ein, wenn sie Opfer einer Straftat werden. Das Gleiche gilt für den Arbeitnehmerschutz oder bei mietrechtlichen Auseinandersetzungen. In der jetzigen Situation – geprägt durch die Pandemie – ist es für Sans-Papiers besonders schwierig: Wenn Sans-Papiers zurzeit noch keine Krankenkasse haben, ist ihr Zugang zum Gesundheitssystem zusätzlich erschwert. Die prekären Arbeitsbedingungen dürften in der aktuellen Situation häufig dazu führen, dass Sans-Papiers keinen Lohn und keine Kurzarbeitsentschädigung bekommen.

     

    Was für Vorteile würde eine städtische ID konkret bringen?

     

    Ein hoher Stellenwert hat die Symbolik: Mit dieser ID zeigt man, dass man seinen Lebensmittelpunkt in der Stadt Bern hat und sich der Stadt Bern zugehörig fühlt – unabhängig von der Herkunft, dem Aufenthaltsstatus etc. Die ID soll zudem so ausgestaltet sein, dass Sans-Papiers keine Angst mehr haben müssen, wichtige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Es braucht also eine Abwägung zwischen dem symbolischen Gehalt und den reellen Verbesserungen für Sans-Papiers.

     

    Bei welchen Dienstleistungen soll die städtische ID eine Verbesserung für Sans-Papiers herbeiführen?

     

    Sans-Papiers sollen künftig keine Angst mehr haben, etwa eine Krankenkasse zu beantragen, ein Handyabo abzuschliessen oder sich bei den Behörden auszuweisen. Damit das funktioniert, müssen auch Personen mit Aufenthaltstitel eine solche Karte haben. Sonst hätten die Leute jedes Mal, wenn die Karte benutzt wird, das Gefühl, dass es sich um einen Sans-Papiers handelt. Mein Ziel wäre es deshalb, dass eine genügend grosse Zahl der Bewohnenden von Bern diese städtische ID als Ausweistitel benutzen.

     

    Was für Anreize sind nötig, um die BernerInnen zu motivieren, die städtische ID zu nutzen?

     

    Wir haben eine innerstädtische Arbeitsgruppe, die verschiedene Aspekte dieses Projekts bearbeitet. Dabei ist auch die Frage nach den Anreizen gefallen. Diese sollten so ausgestaltet sein, dass nicht zu hohe Kosten anfallen.

     

    Wie weit fortgeschritten ist die Einführung einer solchen städtischen ID in Bern? Welche Hürden müssen noch überwunden werden, um dieses Projekt voranzubringen?

     

    Die innerstädtische Arbeitsgruppe, die breit abgestützt ist, hat die letzten zwei Jahre an diesem Projekt gearbeitet und der Exekutive Rückmeldung gegeben. Daraufhin haben wir ein Vorprojekt in Auftrag gegeben, mit dem verschiedene Punkte vertieft geprüft werden sollen – etwa der Nutzen der Karte oder offene rechtliche Fragen. Hierbei haben wir uns auch auf das Rechtsgutachten der Stadt Zürich gestützt. Auch die Verknüpfung mit dem Swisspass ist ein Thema.

     

    Sie erwähnen das Rechtsgutachten der Stadt Zürich: In Bern unterstützt die Stadtregierung eine städtische ID. Der Zürcher Stadtrat kam hingegen zum Schluss, dass die rechtlichen Grundlagen fehlen würden. Wie erklären Sie sich die unterschiedliche Haltung der beiden Städte?

     

    Ich kenne die Überlegungen nicht, welche den Zürcher Stadtrat zu diesem Schluss kommen liessen, und kann mich deshalb nicht dazu äussern. Für uns in Bern ist klar, dass das übergeordnete Recht einen engen Rahmen vorgibt. Wir sind aber der Ansicht, dass es einen rechtlichen Spielraum gibt. Diesen wollen wir ausloten. Es ist für die Stadt Bern sicherlich auch ein Vorteil, dass wir in Bern eine städtische Migrationsbehörde haben, die für diesen Teil der Bevölkerung zuständig ist. Wir sind in einer Phase, in der es keine Denkverbote gibt. Ich sehe zudem Parallelen zum Cannabis-Dossier: Da hiess es immer, dass man keine Schritte Richtung Regulierung machen könne, da das Gesetz dies nicht zulasse. Dank Hartnäckigkeit und weiteren Abklärungen hat sich gezeigt: Es geht eben doch etwas. Und mit einer Präzisierung des Gesetzes, sind wir einen wichtigen Schritt weiter.

     

    Nun ist in Zürich eine bindende Motion des Gemeinderates, die eine städtische ID fordert, vor dem Stadtrat hängig. Was für eine Antwort erhoffen Sie sich von diesem?

     

    Ich möchte dem Stadtrat von Zürich keine Ratschläge erteilen. Ich persönlich finde es aber gut, wenn sich verschiedene Städte dem Thema annehmen. Dies erlaubt eine Diskussion. Wir tauschen uns ausserdem mit anderen Städten im Rahmen der «Städteinitiative Sozialpolitik» aus (Diese Plattform vertritt die sozialpolitischen Interessen von rund 60 Schweizer Städten aus allen Regionen; Anmerkung der Redaktion). So hilft uns etwa das Rechtsgutachten der Stadt Zürich, um möglichst schnell fortfahren zu können.

     

    Braucht es eine verstärkte Zusammenarbeit der Städte in Fragen der Migration und des Zusammenlebens?

     

    Auf operativer Ebene läuft der Austausch mit anderen Städten gut – insbesondere in der Deutschschweiz. Auch auf nationaler Ebene läuft der Austausch über die «Städteinitiative Sozialpolitik». Wenn wir im Rahmen der «Städteinitiative Sozialpolitik» wichtige Anliegen haben, können wir diese im Städteverband – dem Sprachrohr der Städte auf nationalem Level – einbringen. Der internationale Austausch war ausserdem der Grund, weshalb der Gemeinderat der Stadt Bern die Legislaturreise nach Palermo gemacht hat. Auch mit Städten wie New York und Toronto sind wir im Kontakt, um Informationen auszutauschen. Die Idee eines städtischen Ausweises ist eine weltweit verbreitete Forderung.

     

    Gibt es Städte, die Ihnen als Vorbilder dienen?

     

    Das gängige Beispiel ist New York: Als ich vor Jahren über dieses Projekt gelesen hatte, faszinierte mich die Idee und sie liess mich nicht mehr los. Wir haben uns an New York orientiert, als wir mit dem Projekt Bern City Card angefangen haben. Aber auch in Berlin und Hamburg gibt es Bestrebungen der Politik, die wir verfolgen. In Palermo war der Austausch mit Leoluca Orlando (Bürgermeister von Palermo; Anmerkung der Redaktion) sehr interessant, der unter anderem die Abschaffung der Aufenthaltsbewilligung fordert. Auch diese Forderung kann Palermo nicht im Alleingang umsetzen – auch Palermo ist an die übergeordneten Gesetze in Italien gebunden. Dennoch lohnt es sich, wenn verschiedene Städte und Personen dranbleiben. So kann man kleine Schritte vorwärts machen. Das Wichtigste ist: Man lässt die Idee nicht fallen, nur weil sie nicht einfach umzusetzen ist.

     

     

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    Franziska Teuscher

    Franziska Teuscher

     

    Die ehemalige Nationalrätin sitzt für die Grünen in der Exekutive der Stadt Bern und steht der Direktion für Bildung, Soziales und Sport vor.